Der Löffel

 

In einer blauen Ecke, am Rande einer Straßenkreuzung, versuchte eine Amsel eines Morgens ambitioniert ihr Spiegelbild in einem Löffel zu erhaschen. Eine verzwickte Angelegenheit, denn das Spiegelbild wollte sich einfach nicht richtig herum drehen und blieb stets auf dem Kopf stehen, sosehr sich die Amsel auch verbog, den Hals reckte und um den Löffel sauste. In ihrer emsigen Versessenheit bemerkte sie allerdings nicht, wie sich eine getigerte Hauskatze auf samtweichen Pfoten lautlos über den Asphalt bewegte. Mit winzigen Tippelschritten schob sie sich in Richtung des geschäftigen Federviehs, näher und näher…..bis sie schließlich verharrte und mit einer geschmeidigen Bewegung zum Sprung ansetzte. 
Die Amsel verlor inzwischen die Geduld, ihre Nackenfedern sträubten sich wütend während sie immer hektischer um den Löffel herum sprang und plötzlich lautstark zeternd auf den Griff des Löffels hüpfte. In diesem Moment geschahen mehrere Dinge gleichzeitig: Die Augen der Hauskatze blitzten auf, es gab ein lautes Klirren von Metall auf Beton, ein erschrockenes Kopfrucken seitens des Vogels, ein Aufquietschen und anschließend hektisches Flügelschlagen. Keine Sekunde zu spät, beinahe hätte die Amsel an diesem Morgen bitter für ihre Spiegelbildjagd bezahlt. Kein Wind hätte mehr ihr Fliegengewicht getragen, kein winziger Herzschlag schlüge in den Ästen der nächsten Kastanie….. 
In einer blauen Ecke lag ein schimmernder Löffel, eine Katze schnupperte interessiert und, noch in weiter Ferne, rollte etwas auf die Kreuzung zu. 



Die Beschützer

 

„Es ist schrecklich, wenn du andauernd traurig bist“, sagte das Wilde Kind und sah den Segeltrost herausfordernd an. Der Segeltrost blickte nur stumm in die Glut und antwortete nicht. Langsam spürte das Wilde Kind, dass es wütend wurde und das zeigte es auch. Es trat so fest in den Sand, dass ein ganzer Schwarm an winzigen Körnern zischend ins Feuer sauste. „Sag mir warum du traurig bist. Und sag es mir mit ganz grässlichen Wörtern!“, brüllte es und sein Wuschelkopf sträubte sich vor Zorn. Doch der Segeltrost strich nur schweigend sein Hemd glatt und sah das Wilde Kind aus schmerzerfüllten Augen an. Das ging dem Kind so sehr gegen den Strich, dass es erbost aufsprang und davon lief. Auf der Düne drehte es sich noch einmal um und schrie: „Du weißt es selber nicht, so ist das. Jawohl!“ Dann verschwand es in der Dunkelheit.

Auf seinem Weg durch den nächtlichen Kiefernwald sprang das Wilde Kind ab und zu gegen einen der schlafenden Büsche. Das tat gut. Mit der Zeit aber kam es ein wenig ins Keuchen, es war anstrengend zornig zu sein. Plötzlich kam sich das Wilde Kind sonderbar verlassen vor und vielleicht war es das auch. Vorsichtig hüpfte die kleine Gestalt im weißen Kittel über eine Grube und verharrte dann. War da ein Zischen gewesen? Ein Fauchen? Dort, hoch oben in den Wipfeln der Kiefernschatten. Schüchtern äugte das Kind an den schmalen, ernsten Stämmen empor und überlegte, ob es besser war verlassen oder nicht verlassen zu sein. Und gerade, als es zu dem Schluss gekommen war, dass es wohl eher darauf ankam ob man sich alleine fühlte oder nicht, da fauchte es erneut im Geäst über ihm. Dann ertönte ein hohles Knacken und kurz darauf stürzte ein Ozelot jaulend auf den Waldboden. 

„Verdammmich einer!“, schimpfte er und betastete beeindruckt sein linkes Ohr, das einen gehörigen Knick abbekommen hatte. „So eine Scheiße“, ereiferte sich das Wilde Kind. Im selben Moment gab der Ozelot ein Winseln von sich. „Heute ist wirklich ein Dreckstag.“ Das Wilde Kind nickte zufrieden, konnte es aber dennoch nicht lassen: „Drecksnacht meinst du wohl.“ Daraufhin nickte der Ozelot ebenfalls und fühlte sich schon bedeutend besser. Dann überlegten sie, was nun zu tun sei. Obwohl es dem Wilden Kind lieber gewesen wäre, einen Dachs zu jagen oder zumindest einen ordentlichen Baum auszureißen, entschieden sie sich schließlich dazu, etwas zu bauen. Auf dem Weg zu Strand erklärte der Ozelot, es sei auf die Dauer zufriedenstellender etwas zu bauen, als etwas platt zu trampeln. Anschließend fegte er mit seinem Schweif eine ebene Fläche in den Sandboden, ganz nahe am Wasser. „Wenn man etwas baut, kann man es nämlich beschützen“, meinte der Ozelot und begann sehr sachkundig mit dem Bau eines großen Sandgebildes. Eine Weile lang sah ihm das Wilde Kind argwöhnisch dabei zu, dann packte es mit an. Es wurde eine festliche Burg! Stattlich und wild trotzte sie dem nächtlichen Sternenhimmel, der freundlich über ihr zwinkerte. Doch das Meer war größer und bedeutend wilder als alles andere. Vor dem Meer und seinen gierigen Wellen musste die Burg beschützt werden. Mal warf sich das Wilde Kind, mal der Ozelot heldenhaft in die Brandung, während der jeweils andere die Schäden der letzten Flut behob.

Bald schon trieften sie beide vor Salz und nassem Schlick und der Ozelot musste sich gelegentlich den Sand aus den Ohren klopfen. Es war ein einziger Kampf auf Leben und Tod. Es war schrecklich aufwühlend und es war großartig. Bis in die frühen Morgenstunden verteidigten die beiden Burgbauer ihr Revier. Dann wurde ihnen kalt und der Ozelot verspürte mit einem Mal einen gehörigen Appetit. Also stapften sie gemeinsam durch das wispernde Strandgras bis zur Feuerstelle. Inzwischen hatte der Segeltrost Kartoffeln in knisternde Alufolie gewickelt  und in die Glut gelegt. Es roch verheißungsvoll, als sie sich näherten und der Ozelot schleckte sich vorfreudig die Schnauze.
„Morgen bauen wir einen Burggraben“, schmatzte das Wilde Kind und blickte zufrieden in die Runde. Die heiße Kartoffel malte kleine Wolken in die Luft, die vor dem Wuschelkopf im Dämmerlicht tanzten. Der Segeltrost lächelte. 

Gips und Wildnis  - verlorenes Paradies


Mein Schatten hebt die Hand und das Geschirr klappert ungestüm im Wagen. Weiche Lichtflecken schleichen sich über den Bauch des Hotelgebäudes vor mir, sie erinnern an den Blick durch eine von Regen zersplitterte Fensterscheibe. Unklar, weich wie Klangschalentöne. Ich erinnere mich an einen wild verwachsenen Garten, in welchem Figuren aus rauhem Stein standen. Die vom Wetter gegerbten Gesichter waren offen und verschlossen zugleich. Seltsam entrückt standen sie mit ihren groben, eleganten Körpern in all dem Gestrüpp aus Brombeerschlingen, Efeuschleifen und wilden Gräsern. Alles an ihnen war mit dem Atem des Gartens verbunden und genau diese Tatsache ließ sie noch ferner wirken. Ich erinnere mich an den modrigen Geruch der Obstbäume, an das Gewimmel von Ameisen im Putz des Bungalows inmitten des Gartens, an eine vertrocknete Maus in einem maroden Pantoffel. 
 Die Dachfenster des Ateliers sind trüb von all dem Wetter, das über sie hinweggezogen ist. Ich weiß, dass sie immer noch stumm in den Raum voller Spinnweben und unvollendeter Arbeit blicken. Längst hat sich jeglicher Gipsstaub zur Ruhe gesetzt. Immer noch ist die Luft stickig und kalt zugleich. Und unzählige kreideweiße Gesichter tragen die Spuren eines ganzen Lebens. Wird ihnen jemals wieder irgendwer in die Augen blicken und sich im Innersten bewegt wiederfinden? Oder bleiben sie für immer entrückt, längst dem Rhythmus des Gartens anheimgefallen. Sacht verwitternd und schwindend, wie alles, das seinen Weg zurück in die Arme der Natur findet. 

Zorn der Nereiden


Dunkel ist's, Regen klatscht auf sonnenwarme Straßen. Verwaschenes Blau wird von Palmwedeln durchraschelt, wenn zahllose Leuchtreklamen die Dämmerung einläuten. Man spürt die Nähe des Ozeans, sein Atem treibt die Wolken dichter und dichter zusammen. Und der unerbittliche Zorn von glatten, starräugigen Wesen aus der Tiefe geht auf dem Ufer hernieder. Mit spitzen Ohren lauschen sie dem Trommeln ihrer unsichtbaren Fingerkuppen, dem Fauchen und Wimmern der Straßenkatzen. Aus schimmernden Fischaugen sehen sie zu, wie Bug und Heck im Hafenbecken aufeinander krachen, inspizieren das schäumende Getöse, die schnalzenden Wellen und Taue. Und das einsame Klingen einer Glocke lässt sie die Mundwinkel nach oben ziehen. Den zittrig suchenden Leuchtturmschein löschen sie mit einem einzigen Wink.
Ein Rausch von Vernichtung tobt über geduckten Hausdächern und fegt alle Gassen restlos leer. Doch die Augen der Nereiden bleiben ausdruckslos. Denn gäbe es keinen äußerlichen Sturm würden sie ihre eigene Wut nicht bemerken. Ohne etwas zu empfinden, sehen sie ihrem Zorn beim Wüten zu. Und doch ist jeder Sturm besser als ihr Blick, welchem selbst der einer Medusa nicht standhält.

Sandmanns Suche 


Getrocknetes Kunstblut tastet sich an den großen, blanken Fensterscheiben nach unten und zwei Bäume wollen sich heute wie Gespenstschrecken geben. Wenn ich so auf meinen Schatten blicke, sieht er viel ansehnlicher aus als mein Spiegelbild. Grafischer, planer, ohne metallische Details, an welchen man verzweifelt. Weißt du, wie wundervoll es aussieht, wenn Milchschaum vergeht, dabei feine Netze und Gespinste über Kaffeetassenränder zieht und sie bis tief in die glatten Krater wirft? Kannst du die Spuren eines winzigen, konfusen Sandmannes in den fein berieselten Kakaoebenen auf der Untertasse erahnen? Sorgsam trippelnde Fußspuren und ab und zu einen Handabdruck? Man muss schließlich testen, ob Kakao ebenso leicht wie Sandkörner durch die eigenen Finger fällt. Und irgendwann ist es so weit, dann hält man unvermutet das Haus einer Meeresschnecke in den Händen, durch deren Windungen man endlich heimkehren kann. Sei ganz still und du kannst das Meer - dein heimliches, trautes, lockendes - bereits im Gehäuse flüstern hören.